Der Reitplatz ist ein Arbeitsplatz

 

Des Öfteren berichten mir Reitschüler nach einer etwas turbulenten Unterrichtseinheit, dass sie sich nicht erklären können, weshalb das Pferd heute so ungestüm war. Sie hätten es gestern doch extra noch in der Halle oder auf dem Reitplatz laufen gelassen. Viele Anlagenbetreiber beschweren sich außerdem, über die unsachgemäße Nutzung des Reitbodens und die vielen verrückten, völlig ausrastenden Pferde in der Winterzeit. Ich möchte Euch deshalb anschaulich erläutern, was es damit auf sich hat.

 

 

 

Stellt Euch bitte folgende Situationen vor.

 

Ihr arbeitet in einem Bürojob, bei dem es sehr feste Strukturen und Regeln gibt. Das Miteinander ist kollegial aber höflich und Euren Vorgesetzten begegnet ihr respektvoll. Euer Kleidungsstil passt zu dem eklatanten Arbeitsumfeld und Ihr fühlt Euch durch die Regeln und immer gleichen Abläufe ganz wohl. Ihr kennt Euren Platz, wisst den Job zu schätzen und habt Euch viele Jahre in Eure Arbeitsabläufe hinein gearbeitet.

 

 

 

Wenn ihr Meetings habt, kommt ihr dafür in einem bestimmten Raum zusammen, bei dem jeder seinen festen Sitzplatz hat. Äußern tun sich zunächst erst einmal die Chefs und erklären Euch weisungsgebundenen Arbeitern, was demnächst auf dem Plan steht. Im Anschluss werden die Ziele gemeinsam besprochen und ein möglicher Weg zur Umsetzung erarbeitet. Jeder Arbeitnehmer weiß, für welchen Fachbereich er in diesem Fall zuständig ist.

 

 

 

Eines Tages ist wieder ein Meeting und Euer Chef wirkt anders, als sonst. Er schmeißt die Zettel des aktuellen Projektes auf den Tisch und sagt: „Leute, wisst ihr was? Wir müssen eigentlich richtig rein hauen, damit wir fertig werden, aber ich habe überhaupt keinen Bock!“

 

Was ist das denn bitte für ein neuer Umgangston? Seltsam.

 

 

 

Er dreht sich um und holt eine Flasche Sekt und ein paar Dosen Bier hervor, die er an Euch verteilt und sagt: „Also, heute machen wir das mal ganz anders. Sie ziehen sich hier jetzt einmal alle ihre schnöseligen Anzüge aus und wir trinken erstmal einen. Bisschen Spaß muss auch mal sein!“ Ihr schaut Euch alle sehr ungläubig an und versteht die Welt nicht mehr. Was ist denn bitte mit dem Kerl los?

 

Ungläubig nehmt ihr Euer Bier und den Sekt, während der Chef das Radio aufdreht und den Korken knallen lässt. Da spricht er Euch ganz unerwartet an: „Laura, wir sind doch heute mal beim „Du“, oder? Sei mal nicht so steif, werd mal bisschen locker und erzähl mir mal, was du eigentlich den ganzen Tag so treibst.“

 

 

 

Auf einmal seid ihr mit Eurem Chef und den Mitarbeitern auf einer völlig anderen Ebene und erzählt Dinge, die ihr unter anderen Umständen niemals erzählt hättet. Die Stimmung ist ausgelassen, jeder ist überschwänglich erheitert und lässt sich mehr gehen, als er es sonst auf der Arbeit tut. Zum Feierabend sagt Euch der Chef noch, dass ihr das doch mal öfter tun müsst, es sei so witzig und locker gewesen. Mit Arbeit und den dringenden Projekten hat das allerdings nichts mehr zu tun. Etwas irritiert aber lustig angeheitert, beendet ihr den Tag.

 

 

 

Ein paar Tage später habt ihr wieder ein Meeting. Die anderen Mitarbeiter und ihr seid schon laut und ausgelassen am plaudern, denn die Stimmung der letzten Zusammenkunft hallt noch im Konferenzraum nach. Als Euer Chef dazu kommt, ändert sich die Stimmung mit seinem ersten Satz: „Was gibt es hier denn zu lachen? Haben Sie keine Arbeit? Macht sich das Projekt von selbst oder glauben sie, sie werden hier fürs Quatschen bezahlt?“

 

Allen sackt das Herz in die Hose – war der Chef beim letzten Mal doch noch so freizügig!?

 

 

 

Erschrocken aber von der Atmosphäre des letzten Meetings berauscht, traut sich ein Kollege zu sagen: „Naja, das letzte Mal haben wir doch auch unter ganz anderen Umständen „gearbeitet.“, und lacht seine Kollegen dabei an. Er erhält im gleichen Zuge eine Abmahnung.

 

 

 

Ihr seid alle sehr erschrocken und könnt die heutige Laune des Chefs nicht einordnen. Die Damen unter den Angestellten können die veränderte Spannung kaum ertragen und würden am liebsten aufs Klo rennen. Niemand weiß etwas zu sagen und fühlt sich fehl am Platz. Euch ist unwohl und ihr versucht kein falsches Wort von Euch zu geben.

 

Der Chef geht zur Tagesordnung über und ihr besprecht das weitere Vorgehen des laufenden Projekts, als wäre es nie anders gewesen.

 

 

 

Was für eine große Verlockung doch die außergewöhnliche „Regelfreiheit“ mit sich bringt!? Neben viel Spaß und einer gewissen persönlichen Freizeit birgt sie vor allem Probleme:

 

 

 

-         sie ändert die Spielregeln

 

-         sie ändert die Hierarchie

 

-         sie ändert die Aufgabengebiete

 

-         sie ändert die Kommunikation / Sprache

 

-         sie setzt das Niveau herunter

 

-         sie sorgt für Instabilität

 

-         sie macht Angst

 

-         sie macht Stress

 

-         sie hat kein Ziel

 

-         sie ist sinnlos

 

 

Habt ihr schon erkannt, wer (normalerweise) der Chef ist und wer der Angestellte, wenn ihr Euch das Zusammenspiel von Euch und Eurem Pferd anschaut?

 

 

 

Für das Pferd ist der Reitplatz oder die Halle ein Bereich, in dem es sich mit Euch beschäftigen muss, da es zwangsläufig von den anderen Pferden getrennt ist. Ohne Gras unter den Füßen hat es wenig potenzielle Ablenkung, sich anderen Dingen zu widmen, die nichts mit Euch und Eurem Training zu tun haben. Es weiß aber auch, dass es sich dort anstrengen muss, dafür aber auch gelobt und belohnt wird. Und es weiß, dass es dort Regeln gibt, die eingehalten werden. (Diese Regel beginnen eigentlich schon beim Anziehen des Halfters.)

 

 

 

Mit einer positiven Eigensteuerung wartet das Pferd darauf zu erfahren, was ihr wohl heute gemeinsam tut - es wartet also auf Eure Anweisung. Dafür wird es bei Euch beschützt und umsorgt und ist hoffentlich gerne bei Euch.

 

 

 

Und nun kommt ihr in die Halle oder auf den Reitplatz, nehmt die Peitsche in die Hand und sagt: „Los, geh rennen, bock dich aus, hab Spaß, mach irgendwas.“

 

 

 

So schön habt ihr immer daran gearbeitet ein Team zu sein und dann schickt ihr Euren Freund weg und sagt ihm sogar noch: „Vielleicht ist es da hinten besser als hier mit mir. Geh doch mal gucken. Ach ja: Heute gibt es übrigens auch keine Regeln!“

 

 

 

Ja, ich weiß - es gibt auch immer wieder Pferdebesitzer, die daraus eine Art „Freiarbeit“ mit Richtungswechseln und „Herkommen“ einbauen, damit es beim Laufenlassen wenigstens noch ein paar Kommandos gibt. Aber in der richtigen, wirklich guten Freiarbeit, soll das Pferd gerne und nah bei Euch sein, oder eben auf etwas Abstand – das ist ein riesiger Unterschied.

 

 

 

Viele Menschen wundern sich, warum die Pferde beim nächsten Mal (oder generell) auf dem Reitplatz und in der Halle keine Manieren mehr haben und sich nach diesen Aktionen ihre Beziehung zum Pferd verändert.

 

 

 

Mal ganz davon ab, schädigt es den Reitplatz und macht Euch letztendlich die gleiche zeitliche Arbeit, denn ihr müsst die Löcher später wieder harken. Warum dann nicht gleich etwas Kurzes aber Sinnvolles tun?

 

 

 

Das Hinlegen kann man zum Beispiel konditionieren, wenn man den Pferden die Möglichkeit zum Wälzen geben möchte. Und wenn es auf der Anlage im Winter keinen Auslauf gibt, dann könnt ihr das Pferd immer noch vernünftig Longieren und viel GUTE Galopparbeit einbauen, damit es seinen Bewegungsbedürfnissen nahe kommt. Ist Longieren in der Halle nicht erlaubt, gibt es Bodenarbeit, Handarbeit, Standarbeit, Stangenarbeit und noch so viel mehr.

 

 

 

Natürlich ist es in den Wintermonaten auf manchen Anlagen nicht richtig möglich, den Pferden viel freie Bewegung zu ermöglichen, weshalb man nur auf die Halle oder den Platz ausweichen kann (longieren ist mancherorts nicht erlaubt). Manche Besitzer lassen auch mehrere Pferde zusammen spielen, da es durch Boxenhaltung sonst nicht anders möglich ist. Diese „Ausnahmen“ oder auch „Notsituationen“ bestätigen die Regel und sind natürlich manchmal unvermeidbar.

 

 

 

Dennoch liegt es auch hier wieder an uns, den Fehler beim eigenen Verhalten zu finden, als das Pferd für seine „Ausuferungen“ zu verurteilen.